Immer wieder hat Alexander Kluge müde Zeitgenossen daran erinnert, dass sie insbesondere Eigentümer von Lebenszeit und Eigensinn sind. Als Ingenieur unter den Poeten und Poet unter den Anthropologen hat er nun sein Opus magnum zusammengestellt. Seine Chronik der Gefühle liest sich wie eine ständige Verführung durch den historischen Augenblick. Sie ist ein Steinbruch voller kurzer Geschichten -- jede nur so lang wie die Beobachtung scharf und der Gedanke dicht ist. Geschichten vom Umgang mit der Zeit, den Epochen und ihren Brüchen. Figuren, die auf den Kanten der Umbrüche balancieren. Es ist ein Buch über den Kampf mit der Zeit, die bedrängen und überraschen kann: Ein Banker, der die Nerven und damit die Liebe zu einer Afrikanerin verliert; Heiner Müllers letztes Angebot vor seinem Tod, für ein geheimes Quellwasserprojekt zu dichten; die verschwundenen Filmrollen, die vor der Bombadierung in den Kellern Wiens die finale Götterdämmerung der Philharmoniker dokumentieren. Kluge ist der Nomade des Erzählens, ein unermüdlicher Sammler, ständig en detail, ohne sich darin zu verlieren. Er mutet seinen Lesern die Last und Lust einer Fülle von Perspektiven auf Privates, Krieg und Kunst zu. Eine Fülle, die gerade durch ihre Disparatheit besticht. Und wenn Form und Inhalt auch ständig miteinander Krieg führen, so doch ohne Sieger, immer in einem offenen System. Für Kluge sind es die Gefühle, die nebeneinander gestellt und unkommentiert die einzigen legitimen Orientierungspunkte in der Geschichte sind, die nicht lügen. Sie reagieren zeitverschoben auf Geschichte. Zum Zeitpunkt der Bombardierung Halberstadts musste der Junge Kluge unentwegt an die Klavierstunde des nächsten Tages denken. Erst viel später wird ihm die Bedeutung dieses Ereignisses bewusst und spürbar. Kluges Chronik der Gefühle spinnt ein gewaltiges Netz dieser Verschiebungen. Die insgesamt 2040 Seiten seiner "Chronik" sind genaugenommen unchronologisch angeordnet. Man kann getrost springen, auslassen und neu ansetzen und damit Kluges eigentliches Anliegen einer "subjektiven Chronik" mit Eigensinn verwirklichen. --Marcus Welsch
Immer wieder hat Alexander Kluge müde Zeitgenossen daran erinnert, dass sie insbesondere Eigentümer von Lebenszeit und Eigensinn sind. Als Ingenieur unter den Poeten und Poet unter den Anthropologen hat er nun sein Opus magnum zusammengestellt. Seine Chronik der Gefühle liest sich wie eine ständige Verführung durch den historischen Augenblick. Sie ist ein Steinbruch voller kurzer Geschichten -- jede nur so lang wie die Beobachtung scharf und der Gedanke dicht ist. Geschichten vom Umgang mit der Zeit, den Epochen und ihren Brüchen. Figuren, die auf den Kanten der Umbrüche balancieren. Es ist ein Buch über den Kampf mit der Zeit, die bedrängen und überraschen kann: Ein Banker, der die Nerven und damit die Liebe zu einer Afrikanerin verliert; Heiner Müllers letztes Angebot vor seinem Tod, für ein geheimes Quellwasserprojekt zu dichten; die verschwundenen Filmrollen, die vor der Bombadierung in den Kellern Wiens die finale Götterdämmerung der Philharmoniker dokumentieren. Kluge ist der Nomade des Erzählens, ein unermüdlicher Sammler, ständig en detail, ohne sich darin zu verlieren. Er mutet seinen Lesern die Last und Lust einer Fülle von Perspektiven auf Privates, Krieg und Kunst zu. Eine Fülle, die gerade durch ihre Disparatheit besticht. Und wenn Form und Inhalt auch ständig miteinander Krieg führen, so doch ohne Sieger, immer in einem offenen System. Für Kluge sind es die Gefühle, die nebeneinander gestellt und unkommentiert die einzigen legitimen Orientierungspunkte in der Geschichte sind, die nicht lügen. Sie reagieren zeitverschoben auf Geschichte. Zum Zeitpunkt der Bombardierung Halberstadts musste der Junge Kluge unentwegt an die Klavierstunde des nächsten Tages denken. Erst viel später wird ihm die Bedeutung dieses Ereignisses bewusst und spürbar. Kluges Chronik der Gefühle spinnt ein gewaltiges Netz dieser Verschiebungen. Die insgesamt 2040 Seiten seiner "Chronik" sind genaugenommen unchronologisch angeordnet. Man kann getrost springen, auslassen und neu ansetzen und damit Kluges eigentliches Anliegen einer "subjektiven Chronik" mit Eigensinn verwirklichen. --Marcus Welsch